Der Gedanke gegenseitiger „Erziehung“ (z. B. Jugendlicher untereinander) ist älter, als der heute gebräuchliche Begriff „Peer Education“ zunächst vermuten läßt. Wobei „peer“ nicht zwingend den Jugendlichen, sondern – von der eigentlichen Wortbedeutung her – den „Gleichartigen“ oder „Gleichrangigen“, „Ebenbürtigen“ meint. Ähnliches gilt für den Begriff „Positive Peer Culture“, der den Gesichtspunkt der Erziehung ergänzt durch den Aspekt fürsorglichen, helfenden Umgangs miteinander: Der von den amerikanischen Psychologen und Pädagogen VORRATH und BRENDTRO geprägte Begriff geht eigentlich auf die Reformpädagogik in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, war aber in Deutschland über lange Zeit in Vergessenheit geraten. Mit der Übersetzung „Fördernde Gruppenkultur“ wird einem Vorschlag von BEATE KREISLE gefolgt, weil er den Geist dieser Pädagogik am besten wiedergibt.
Das Konzept der Fördernden Gruppenkultur fußt in der Sache auf den Lerntheorien, insbesondere dem Ansatz des Sozialen Lernens von BANDURA. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß insbesondere für Jugendliche die peer group (d. h. in diesem Falle die Gruppe der gleichaltrigen „Kumpel“ und Freunde) einen bedeutenden Einfluß hat, zu einer zweiten Familie und zeitweise zur wichtigsten Sozialisationsinstanz wird. Dieser Gesichtspunkt wurde in neuerer Zeit vor allem unter dem negativen Aspekt von „Subkultur“ (mit der Gefahr abweichenden bzw. kriminellen Verhaltens) gesehen. Es ist das Verdienst von VORRATH und BRENDTRO, die positiven Chancen dieser Sozialisationsinstanz für die pädagogische Arbeit wieder in den Vordergrund gerückt zu haben. Die Fördernde Gruppenkultur versucht also nicht mehr und nicht weniger, als den ohnehin vorhandenen Einfluß der Gleichaltrigengruppe gezielt für positive Veränderungen zu nutzen. Im Gegensatz zu vielen defizitorientierten Ansätzen glaubt dieser pädagogische Ansatz an die Potentiale und die Stärke der Jugendlichen, auch große Herausforderungen aus eigener Kraft meistern zu können.
In dieser Hinsicht fügt sich das Konzept der Fördernden Gruppenkultur unmittelbar in den kriminologischen Theorie- und Forschungsstand ein. Denn dort wird ja gerade der überragende Einfluß thematisiert, den die "peer group" in der Adoleszenz erwirbt, wobei mit Blick auf die Entstehung krimineller Karrieren durchaus mit Recht auf die Risiken abgestellt wird, die sich aus dieser Dominanz der Gruppe ergeben – ganz im Sinne jener Sichtweise, wonach es sich bei der Kultur der peer group oft um eine Subkultur mit kriminalitätsbegünstigenden Normen und Werten handelt.
Was oft genug geschieht, wenn unter dem Einfluß weniger ganze Gruppen in ein subkulturelles Fahrwasser geraten, muß aber nicht sein – bzw. der Einfluß von Gleichaltrigen kann gewissermaßen auch umgedreht werden. Ein Potential, das zweifelsfrei vorhanden ist, wird in anderer Weise genutzt. Insofern ist die Fördernde Gruppenkultur das pädagogische „Gegenstück“ der entwicklungskriminologischen Theorien (und zeigt gleichzeitig, warum pädagogische Stile, die die „Eltern“ kopieren, nur Reaktanz erzeugen können).
Das Konzept der Fördernden Gruppenkultur möchte also die subkulturelle Eigendynamik aufbrechen, die unter adoleszenten „peers“ leicht entsteht, und verfolgt demgegenüber das Ziel, den Jugendlichen positive soziale Werte zu vermitteln und ihr Selbstwertgefühl im Sinne eines positiven Selbstkonzeptes aufzubauen. Sie schlägt also gewissermaßen die Subkultur mit ihren eigenen Waffen. Die Jugendlichen sollen dabei (wieder) lernen, sich gegenseitig bei der Bewältigung ihrer Probleme und Schwierigkeiten zu unterstützen, füreinander da zu sein.
Fördernde Gruppenkultur setzt den Aufbau bzw. das Vorhandensein einer Gruppe voraus (die mehr ist als eine zufällige Ansammlung mehrerer Personen), in der dieser Grundsatz (das Kümmern umeinander und Sorgen füreinander) gelebt wird. Ist eine solche Struktur vorhanden, besteht die „Hilfe“ oder „Unterstützung“ darin, daß andere Jugendliche aus eigener Erfahrung (mit ähnlichen Problemen, die sie erfolgreich überwunden haben) Rat geben und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen können. Dabei erlebt sich der „Ratgeber“ zugleich als wertvolles Mitglied der Gruppe, das gebraucht wird, was sich wiederum positiv auf das eigene Selbstwertgefühl auswirkt. Die Jugendlichen werden auf diese Weise gegenseitig zu Experten für die Lösung von (alters)spezifischen Problemen. Dieses Konzept findet sich im Grundsatz auch bei jeder Art von Selbsthilfegruppe.
Der Ansatz der Fördernden Gruppenkultur führt – im Vergleich zur „klassischen“ Pädagogik – zu einer Verschiebung im Verhältnisses zwischen Jugendlichen und erwachsenen Betreuern o.ä.: Die Jugendlichen werden von „zu Erziehenden“ oder „Hilfeempfängern“ zu Partnern in einem gemeinsamen Vorgehen. Die Hauptaufgabe der erwachsenen „Pädagogen“ besteht in diesem Kontext darin, ein positives, von Vertrauen geprägtes Gruppenklima von Offenheit und Zusammengehörigkeit aufzubauen und zu pflegen, den Grundsatz der Fürsorge und Unterstützung selbst vorzuleben und ggf. bei Bedarf auch durchzusetzen.
Mittlerweile arbeitet in Deutschland eine ganze Reihe von Einrichtungen mit dem Ansatz der Fördernden Gruppenkultur.
Literaturhinweis: Thomas Trapper: Positive Peer Culture. Eine pädagogische Antwort auf Probleme in Schulen und sozialen Einrichtungen; in: Sanders/Bock (Hrsg.): Kundenorientierung - Partizipation - Respekt. Neue Ansätze in der Sozialen Arbeit, VS-Verlag, Wiesbaden 2009